1998 hat die Gemeinde Inzing ein außergewöhnliches Projekt realisiert: Von Architekt Erich Gutmorgeth geplant und gebaut, wurden Kindergarten und Gemeindeamt unter einem gemeinsamen Dach untergebracht. Mehr Brücke als Haus – inhaltlich und räumlich – verbindet der Bau zwei Nord-Süd-Straßen des Ortes, indem er ebenerdig und im ersten Stock passagenartig durchschritten werden kann, zugleich einen schönen Garten umschließt, in welchem die Kindergartenkinder spielen, während die Amtszimmer nordwärts über den Ort schauen.
Dieses hybridartige Gebäude war Ausgangspunkt des Wettbewerbes für das "Haus der Kinder in Inzing". Die Aufgabe war eine Erweiterung des bestehenden Kindergartens um vier Gruppenräume, vier Kinderkrippengruppenräume, einen zentralen Mittagstisch, einen Bewegungsraum – auch für Veranstaltungen nutzbar – und ein Dorfcafé. Baugrund dafür entstand durch den Abbruch zweier baufälliger Bauernhöfe in unmittelbarer Nähe zum Bestand. Platz – ein eigentlicher Dorfplatz – war ein zentrales Anliegen der Gemeinde, da es im Dorf kaum mehr öffentliche Räume gibt, an denen sich das Gemeinschaftsleben verorten kann.
Der Neubau steht als Solitär dicht neben dem Bestand: massiv und hoch gebaut, weiß verputzt als Kontrapunkt zum schwebend leichten, horizontal gestreckten Holzbau von 1998. Die schmale Kirchgasse trennt die beiden Gebäude. An die Bewegungsrichtungen des Bestandes wird angeknüpft: Sie werden fortgeführt, leicht aufwärts zum neuen Dorfplatz. Dort weicht das neue Haus durch einen Knick weit zurück, um einem großen Lindenbaum Raum zu geben. Die Dorflinde – seit Jahrzehnten hinter der Widumsmauer eingeschlossen – konnte durch den Abbruch der Mauer ins Zentrum des Platzes integriert werden, wie auch der Vorplatz des Widums, der nun ein offener Teil des Gesamtkomplexes ist. Um möglichst wenig Grundfläche zu besetzen und Raum zu schaffen, wurde der Neubau in drei Geschoßen organisiert. Durch die Höhenentwicklung des Gebäudes konnte am Dorfplatz die notwendige Präsenz – im Gleichgewicht zu Widum, Kirche und dem westlich gelegenen großen Bauernhof – erreicht werden.
Durch den Abbruch der alten Höfe war es möglich, die wichtige Nord-Süd-Verbindung neu zu trassieren und am Neubau vorbeizulenken. In mehreren Knicken folgt die westliche Fassade diesem neuen Straßenverlauf. Am tiefstgelegenen Punkt angelangt, sind vier Geschoße über dem Gelände sichtbar. Dort befindet sich die Einfahrt zur Garage, welche unter dem Neubau und dem Platz verschwindet.
Das Ergebnis der Entwurfshaltung, welche naturgemäß auf die oben beschriebenen örtlichen Rahmenbedingungen reagiert, ist ein Grundriss, dessen vertikale Entwicklung eine Baumasse formt, die in ihrer Vielgestaltigkeit schwer fassbar ist: einmal Turm, einmal Schiff mit langgestreckter Fassade, einmal eben nur Haus.
In Materialisierung und Farbigkeit des Baus und der Verwendung der typologischen Grundelemente Lochfassade und Giebeldach wurde ein dem Ort vertrautes Vokabular leicht verfeinert variiert. So war es möglich, das bestehende Ensemble unaufgeregt zu ergänzen und die neue Dorfmitte zu gestalten.
M.S. | R.R.
Martin Scharfetter, geb. 1972 in Innsbruck. Studium der Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien und Postgraduate Studium am Berlage Institute in Amsterdam und Rotterdam. Selbstständige Arbeiten seit 2003. 2008 Gründung von Architekten Scharfetter_Rier.
Robert Rier, geb. 1968 in Waidring, Tirol. Studium der Architektur an der Technischen Universität Innsbruck. 1997–2005 Mitarbeit bei Architekten Heinz & Mathoi & Streli.
Realisierte Projekte (Auswahl): Haus in Waidring, Tirol (2003), Ausbau Tennen am Seehof Lansersee, Tirol (2004), Haus in Patsch, Tirol (2004), Dachausbau in Innsbruck (2006), Haus in Lans, Tirol (2007), Kultur- und Veranstaltungszentrum KiWi in Absam, Tirol (2010), Umbau Büro- und Lagergebäude HAFINA in Völs, Tirol (2010), BTV Büro und Bankgebäude in Hall, Tirol (2011), Haus im Oberbergtal, Tirol (2011), MPREIS Servicecenter Baustufe 5 in Völs, Tirol (2011), BTV Filiale in Lienz, Tirol (2012), 2 Häuser in Vill, Tirol (2013), MPREIS Markt in Natters, Tirol (2014), Haus für Kinder und Dorfplatz in Inzing, Tirol (2014).
Aktuelle Projekte (Auswahl): Zukunftsentwicklung Lansersee, Tirol, Bebauungsstudie und Masterplan Wohnsiedlung Minkuswiese am Pirchanger in Schwaz, Tirol, MPREIS Servicecenter Baustufe 6 in Völs, Tirol.
Auszeichnungen (Auswahl): BTV Bauherrenpreis "Transformation", Auszeichnung (2003), Holzbaupreis Tirol "Revitalisierung", Auszeichnung (2007), ZV-Bauherrenpreis, Nominierung (2010), Holzbaupreis Tirol "öffentliches Bauwerk", Auszeichnung (2011), Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen (2006, 2010, 2014).