Architektur kann weder die Frage beantworten, wie Europa mit Migration und Flüchtlingen umgeht, noch eine Lösung anbieten, wie Menschen ohne Aufenthaltstitel in Österreich eine Zukunft haben können. Bei den harten Antworten, die die Europäische Union momentan gibt, erachten wir es allerdings als besonders wichtig, dass den betroffenen Personen in der Zeit, in denen unser Staat für sie die Verantwortung übernimmt, ein Aufenthalt ermöglicht wird, der ihnen ihre Würde lässt. Alle Assoziationen von Strafe sind hier fehl am Platz.
Die ernsthafte Wettbewerbsauslobung durch das Innenministerium hat Spielräume ermöglicht. Wir sahen es als unsere Aufgabe, diese zu interpretieren und bestmöglich – im oben erklärten Sinn – zu nutzen. Die von uns eingebrachten Vorschläge wurden oft hinterfragt, letztlich von unseren Auftraggebern aber konsequent mitgetragen. Dies hat es uns ermöglicht, Wege zu gehen, die in Österreich für die Unterbringung in Polizeianhaltezentren, aber auch Gefängnissen neue Maßstäbe setzen.
Der rund 10.000 m² große Neubau ist im Wesentlichen in zwei Bereiche gegliedert: Ein langgestreckter Verwaltungstrakt – etwa ein Drittel der Bausubstanz – steht unmittelbar an der Straße. Von diesem abgewandt, entwickelt sich der kammartig gegliederte Wohntrakt mit ca. 6.500 m². Die Höfe dieser Wohnbereiche öffnen sich zu Bach und Berg. Der Schubhaftteil mit seiner fächerartigen Struktur bildet für die neun Wohngruppen jeweils eine individuelle Hofsituation und ist so angelegt, dass die Wohngruppen autark funktionieren. Anders als in herkömmlichen Gefängnistypologien ist der Freiraum immer einer Abteilung mit etwas mehr als 20 Personen zugehörig und nur von diesen einsichtig.
Geölte Lärchenholzfenster bestimmen die Fassade der Wohnbereiche. Wir konnten den Nutzer überzeugen, auf eine Vergitterung der Glasflächen zu verzichten. Schmale Fensterflügel ermöglichen das Lüften und verhindern ein unkontrolliertes Aussteigen. Die Materialien im Inneren entsprechen einer hochwertigen Herberge. Anstatt Materialien zu wählen, die sich nicht zerstören lassen, wurden solche verwendet, die auch bei starker Nutzung gut altern können. An der Schnittstelle zur Behörde bildet der Wohntrakt die Gemeinschaftszonen und durchdringt den formal strengen Verwaltungstrakt.
Nach außen steht das Gebäude mit seiner Stahlbetonfassade ruhig und sachlich da und zeigt mit seinen drei vollflächig verglasten Durchdringungen, was sich im Inneren des Objektes verbirgt. Die Anwesenheit der angehaltenen Menschen in Vordernberg ist durch diese Einblicke sichtbar. Der Verwaltungstrakt übernimmt die Funktion einer Mauer entlang der Straße.
M.A.
Michael Anhammer, geb. 1974 in Wien. Studium der Architektur an der TU Wien. 1997–2001 Filmkritiker, 2003–2010 Veranstalter des Filmfestivals "Wild Days of Cinema". 2001–2006 Projektleiter bei querkraft architekten, 2006 Gründung von Sue Architekten. 2008–2012 Vorsitzender bzw. Sprecher der IG Architektur. Seit 2013 Vorsitzender des Wettbewerbsausschusses der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland.
Sue Architekten sind Christian Ambos, geb. 1974, Michael Anhammer, geb. 1974 und Harald Höller, geb. 1973. Büro in Wien mit 13 MitarbeiterInnen.
Realisierte Projekte (Auswahl): Gemeindeamt Ottensheim, Oberösterreich (2010), Schubhaftzentrum Vordernberg, Steiermark (2014), Wohnbasis alpha 11 in Wien (2013), Fernsehsender W24 in Wien (2013), Schoeller-Bleckmann Oilfield Technology Productcenter in Ternitz (2014), "Dichte Identität am alten Anger" in Wien-Aspern (2011), GMOA-Keller in Wien (2010), Wohnbau BUCH im Wienerwald (2008), "schon schön" – urbaner Gastraum in Wien (2006), Ruefa Lounge – Pilot Stores in Graz und Klagenfurt (2008).
Aktuelle Projekte (Auswahl): Justizzentrum Salzburg (in Planung).
Auszeichnungen (Auswahl): YOVA – Young Viennese Architects (2008), Aluminium-Architektur-Preis (2010), Bauherrenpreis (2010).
Weiterführende Links:
www.sue-architekten.at