Veränderung, Wandel. Keine Architekturkonferenz der letzten Jahre beschwört nicht die Verantwortung der Bauindustrie für die Energiewende und ihren Ressourcenverbrauch und fordert dann Transformation, neues Bauen, kein „weiter so”, das Aufbrechen von verkrusteten Strukturen, das Sprengen der Fesseln der Regulation. Einfaches Bauen, Dauerhaftigkeit und in der Folge Abriss- und Neubauverbote, Enquete-Kommissionen, Strategiedialoge – weitgehend folgenlos. So sehr vor diesem Hintergrund die verzweifelten Reaktionen von Fridays und Architects for Future nachvollziehbar sind, so wenig geschieht in der Breite. Die wenigen gebauten Beispiele werden durch Preisgremien und Vorträge gereicht – Zirkularität haben wir uns eigentlich anders vorgestellt.
Das Ende einer langen Nullzinsphase, Material- und Personalknappheit und in der Folge steigende Baukosten brechen nun mit Gewalt in den Garten Eden einer wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft. Dass diese nur einen kleinen Teil der Weltgemeinschaft ausmacht, ist bittere Randnotiz.
Die internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart beobachtet diese Prozesse aus dem Auge des Sturms. Eine der reichsten Regionen Europas, erfolgreich geworden mit Ingenieurskunst und individueller Mobilität, muss sich neu erfinden. Die IBA’27 erlebt stundenlange Gemeinderatssitzungen, in denen beharrende Kräfte über Stellplatzschlüssel diskutieren, und Wohninitiativen, die Lebensstile in einer Gemeinschaft des Kümmerns, der Pflege und des Verzichts suchen.
Die IBA’27 arbeitet beharrlich an einem Bild der Region, das produktiv und bewahrend, verantwortungsbewusst und sorgfältig Zukunft in einer Neusortierung des Erbes von 150 Jahren Moderne sucht.
A.H.
Zukunftsquartiere bei der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart
In der hügeligen, rohstoffarmen und von Flussläufen durchzogenen Region um Stuttgart entwickelte sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Textilindustrie, die den Menschen eine Alternative zur kargen Landwirtschaft bot. Die Wasserkraft erlaubte den Betrieb von Fabriken und bestimmte deren Rhythmus entlang der Flüsse. Die neu entstandenen Eisenbahnlinien verbanden die lokalen Produktionsstandorte mit nationalen und internationalen Handelsnetzen und „importierten” neues Wissen, das es brauchte, um konkurrenzfähig zu sein. Die Eisenbahnen transportierten die Rohstoffe und ermöglichten den Vertrieb der Waren. Während in den verschiedenen Regionen der Rohstoffextraktion von Kohle und Eisen von Mittelengland über Nordfrankreich und Belgien bis nach Deutschland und Polen die Industrie eine neue Landschaft schuf, blieb sie hier weniger sichtbar. Gleichwohl durchdrang sie den Alltag der Menschen. „Die Maschine übernahm die Macht”, konstatierte Sigfried Giedion 1948 rückblickend.¹
In anderen Gegenden Europas war die Textilindustrie eine hundertjährige Episode, auf die ihr Niedergang und der Wandel zu Dienstleistungsgesellschaften folgte. Hier entstand um die Maschinen, ihre Reparatur und Weiterentwicklung ein Ökosystem des Maschinenbaus. Dieses erschloss beim Übergang von der Elektrizität zu flüssigen, fossilen Brennstoffen den Markt des heute weltweit verbreitetsten Industrieprodukts, des Automobils. Die Region Stuttgart ist im europäischen Vergleich reich, produktiv, exportorientiert und forschungsstark. Diese Stärke bedeutete allerdings auch Abhängigkeit. Technologischer Wandel, internationale Konkurrenz und politische Verschiebungen in globalisierten Märkten verlangten und verlangen permanente Anpassungen.
Seit einiger Zeit kommt dazu, dass aus Umwelt- und städtebaulichen Gründen die Kritik am Auto und dem individuellen Verkehr wächst. Die im Zweiten Weltkrieg – auch wegen ihrer industriellen Bedeutung – schwer zerstörte Stadt Stuttgart hat sich dem Verkehr in der Nachkriegszeit in einer Weise geopfert, die zu einer Hypothek für die Lebensqualität geworden ist. Umweltzonen, Dieselfahrverbote und ein konfliktreicher Ausbau der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur mit einem neuen Bahnhof: Verkehrsthemen prägen die Debatten und spalten die Gesellschaft. Elektroautos, die zumindest die unmittelbaren Folgen für die Luftqualität mildern, sind zugleich Chance und Herausforderung für die Industrie.
In dieser Umbruchstimmung fragten sich Angestellte der regionalen Wirtschaftsförderung vor zehn Jahren, ob sich die absehbaren Veränderungen nicht positiv antizipieren, aktiv gestalten und mit einer Geschichte hinterlegen ließen. Sie erfanden den Begriff des „präemptiven Strukturwandels” und luden viele Akteure ein, um über die Möglichkeit einer internationalen Bauausstellung zu diskutieren. Die Werkbundsiedlung auf dem Weißenhof – die 2027 ihren hundertsten Geburtstag feiert – war ein guter Anlass dazu, weil der Werkbund 1927 bereits versucht hatte, den großen industriellen Umbrüchen ein Gesicht und eine Form zu geben. Und die Internationale Bauausstellung Emscherpark hatte sich 1999 im Ruhrgebiet als erfolgreiches Transformationsinstrument erwiesen. Während dort mit großen Investitionen die Folgen eines Deindustrialisierungsprozesses bewältigt wurden, wollten die Initianten der Stuttgarter IBA einen solchen durch kluge Vorausschau verhindern. Eine breite Allianz aus regionalen Institutionen, der Stadt Stuttgart, der Universität und den Berufsverbänden der Ingenieure und Architekten gründete Ende 2017 die „Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart GmbH” als eigenständige Gesellschaft und stattete sie mit Mitteln für ein zehnjähriges Projekt aus. Ein Bauboom und der Reichtum der Region schienen es aber nicht nötig zu machen, dass die IBA’27 selbst investiert – sie sollte vielmehr laufende Prozesse inspirieren und begleiten.
Im Herbst 2018 rief die IBA’27 auf, erfolgversprechende und zukunftsorientierte Projekte einzureichen. Dies taten in der Folge Kommunen, Grundeigentümer, Genossenschaften, Hochschulen, Bürgerinitiativen und Verbände. Entgegen ursprünglichen Befürchtungen, dass in der dicht bebauten Region Stuttgart die Flächen für solche Entwicklungsprozesse gar nicht vorhanden seien, zeigten sich bald die Potentialräume einer Region im Umbruch. Das sind teilweise langjährig brachgelegene Flächen, Restgrundstücke entlang von Verkehrsinfrastrukturen und vorstädtische Siedlungsstrukturen mit erheblichem Verdichtungs- und Ergänzungspotential. Die IBA’27 hatte ihr „Bild der Region”² gefunden: die bauliche Entwicklung als Transformation der Region zu einem kohärenteren Raum verstehen, sanftere Übergänge zwischen den heterogenen Fragmenten schaffen, hundert Jahre Funktionstrennung überwinden und die großindustriellen Strukturen dort, wo sie nicht mehr gebraucht werden, auf einen menschengerechten Maßstab reduzieren und zugänglich machen. Im Gegensatz zu einem rückwärtsgewandten Urbanitätsdiskurs nimmt die IBA’27 dabei die Randzonen ernst, stülpt kein Bild einer Idealstadt über die Räume, sondern befragt sie nach ihren Begabungen und Potentialen.
Während die Stadtutopien der Vergangenheit die Zerstörung des Bestehenden verlangten, um ihr neues Bild durchzusetzen, oder sich auf Reparaturmaßnahmen der historischen Innenstädte beschränkten und für die Agglomeration nur Verachtung hatten, interessiert sich die IBA’27 für die widersprüchlichen Fragmente einer 150-jährigen Industriegeschichte, die jetzt mit minimalinvasiven Eingriffen zukunftsfähig gemacht werden müssen und durch ihre Vergangenheit zum Reichtum des Raums beitragen.
Dies hat etwas mit Ressourceneffizienz, Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft zu tun, geht aber darüber hinaus. Die Vorstellung, gebrauchte Bauteile in Datenbanken zu speichern, damit unsere Nachfahren auf einen realen Bauteilkasten für ihre Bauvorhaben zugreifen können, ist angesichts des gewaltigen nicht erfassten Bestands und der logistischen Herausforderungen großangelegter Bauteillager unrealistisch. Während Jahrhunderten vorindustrieller Baukultur war dies auch nicht nötig. Wertschätzung, lange Lebensdauer und knappe Ressourcen führten zu sanftem Weiterbauen; Vorhandenes wurde wiederverwendet. Die aktuelle Abrisswelle ist, abgesehen von spekulativen Kräften, die dem Bestand keinen Wert beimessen, auch durch eine Überspezialisierung der funktionalistischen Moderne entstanden: mit Wohnungen, die sich nur für das Kleinfamilienmodell eignen, billigen Gewerbehallen, riesigen Bürogebäuden, Tiefgaragen und Infrastrukturbauwerken.
Wenn wir Neues bauen, sollten wir uns eher an den Gebäuden der Vormoderne orientieren: robuste Strukturen, die Jahrhunderte überdauern und sich auch heute mit leichten Anpassungen für unterschiedliche Nutzungen eignen. Diese Nutzungsoffenheit verhindert räumliche Obsoleszenz, und sie ist ein Schlüssel, um anstehende Transformationsprozesse ressourcenschonend gestalten zu können. Denn neben den technisch definierten Produktionslinien der Massenfertigung und den riesigen Logistikhallen wächst in der Industrie der Bedarf an kleinteiligen Manufakturen für Prototypen, hochwertigen Laborflächen und flexiblen, roboterisierten und immissionsarmen Fertigungsprozessen. Hier arbeiten qualifizierte Fachkräfte, die ein gutes Arbeitsumfeld verlangen. Ähnliches gilt für das traditionelle Handwerk und das Gewerbe. Umwelt- und Arbeitsschutzgesetze verhindern Lärm und Gestank, die Nähe zur Kundschaft ist wichtig, lange Anfahrtswege für Handwerksbetriebe nerven und sind teuer.
In den neunziger Jahren entstanden erste Technoparks in Frankreich, England und der Schweiz. Bereits früher sicherten Gewerbegenossenschaften günstige Flächen in teuren Städten. Hier lässt sich anknüpfen und weiterbauen. Die Stadt wird zur produktiven Stadtregion; sie nutzt Bestehendes und ergänzt sorgfältig Neues. Die Umbrüche im Einzelhandel schaffen dafür Flächen in den Innenstädten; die riesigen Parkplätze und die dünn bebauten Gewerbegebiete entwickeln sich zu lebendigen und lebenswerten Quartieren, und die Arbeit erobert mit Gewerbehöfen das Abstandsgrün der modernistischen Großsiedlungen. Mario Botta hat arrogant gesagt, dass er nicht an einem Ort baue, sondern Orte schaffe. Heute finden wir im Erbe der Moderne die Orte der Zukunft.
A.H.
¹Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command. A Contribution to Anonymous History, New York: Oxford University Press 1948; dt.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1982.
²Die IBA’27 hat fünf Themen und Räume definiert, in der sie ihr Programm umsetzen will: die produktive Stadt, die Zukunft der Zentren, Orte der Bewegung und Begegnung, der Neckar als Lebensraum und das Erbe der Moderne.