Freitag, 5. März | 11:15

„Wann, wenn nicht jetzt!”


Ein Intro über die gegenwärtige Lage erübrigt sich, wir kennen sie: Wir befinden uns in einer Klimakatastrophe, wir sind dabei unsere Lebensgrundlage auf dem Planeten zu zerstören, aufgrund der jahrzehntelangen neoliberalen Entwicklung sind Macht und Ressourcen ungleich verteilt, demokratische Verhältnisse sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Unsere mangelnde Solidarität mit marginalisierten Gruppen, mit Geflüchteten, ist beschämend. Die Pandemie macht bestehende Defizite deutlich. Mit der Geschwindigkeit des technologischen Wandels erzeugt das eine kollektive Überforderung, die sich in Konservativität = Angst äußert.

Es wird nicht mehr an die Zukunft geglaubt, zumindest nicht an eine, die besser ist als die Vergangenheit. Es wird nicht mehr an Entwicklung geglaubt. Zunehmend wird Kritik an der gebauten Umwelt laut, die nicht von der Hand zu weisen ist. Gleichzeitig haben wir eine Scheindiskussion über Leistbarkeit, die uns suggeriert, dass sich Qualität und gar Schönheit, Differenziertheit nicht mehr ausgehen. Unserer Disziplin und ihren Vertreter*innen wird angesichts der Herausforderungen kein zentrales Lösungspotential zugetraut. Sie wird zum Nebenschauplatz.

Und doch ist es so: Unser Sein im Raum ist Motor unserer Erkenntnis. Architektur durchdringt alle Lebensbereiche. Sie beeinflusst und lenkt unser tägliches Tun, ob als Vorder- oder als Hintergrund. Sie wird von allen Menschen unterschiedlich wahrgenommen. Ich bin mit einer starken Raumwahrnehmung geboren worden. Die Relevanz des Raums ist mir also gewissermaßen in die Wiege gelegt. Aber auch später im Beruf habe ich bei aller Machtlosigkeit der Position oft erlebt, was Architektur kann und was Planen kann und dass der hohe Einsatz Sinn macht. Unser Auftrag lautet ganz unnaiv: Ein gutes Leben für alle, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, auch und besonders für die, denen nicht geholfen wird. Und nicht irgendwie, mit Ach und Krach, sondern als Kulturleistung, dem 21. Jhdt. angemessen. Die Verantwortung (für die Sphäre der gebauten Umwelt) reißen wir Architekt*innen gern an uns.

Lassen Sie mich daher das Phänomen Architektur und Planen|Entwerfen für die Nicht- Architekt*innen kurz beschreiben:
Architektur ist eine, wenn nicht die interdisziplinäre Beschäftigung bei der unterschiedlichste Inhalte, Bedingungen und Disziplinen zusammengeführt, synthetisiert und letztlich materialisiert werden. Schon bei der kleinsten Hütte passiert eine komplexe Informationsverarbeitung, die von interdisziplinären Teams in Schwarmintelligenz bewältigt wird. In diesem Sinn ist Architektur ein Produkt gemeinschaftlicher Anstrengungen. Sie steht für mehr als eine Person. Für kollektive Arbeit anstelle von alleiniger Autor*innenschaft. Ohne Frage ist es eine Herausforderung, in der Zusammenarbeit die konzeptuelle Schärfe und Schönheit der Entwürfe nicht zu verlieren.

Aus dem Input entsteht eine Art „höhere Ordnung”. Das Ergebnis ist mehr als die Summe der Teile. Aus nichts wird etwas, oder, alchemistisch ausgedrückt: aus Scheiße wird Gold | bzw. kulturelles Kapital – natürlich nicht immer.
Die beim Entwerfen entstehende architektonische Struktur hat für uns etwas von einem Organismus, hat Wesen und Persönlichkeit. Sie ist vielschichtig und bietet dementsprechend viele Verständnisebenen, von Gebrauchs- bis zum Liebhaberverständnis. Architektur ist lesbar, eine Art 3D-Sprache bis hin zu einer aus zugrundeliegenden Regeln generierten Grammatik.

Die Aspekte von Architektur sind nicht nur logische oder quantitativ fassbare – wie z.B. die Erfüllung einer Funktion, statische Festigkeit, messbare „Nützlichkeit”. Das liefern wir ohnehin. Sondern eine darüber schwebende überfunktionale, abstrakte, erfinderische Ebene. Sie ist schwerer fassbar. Deshalb wird darüber auch weniger gesprochen.

Und doch ist Architektur als Kulturleistung, unabhängig vom Entstehungsdatum, der Grund, warum wir weit fahren, um etwas anzuschauen. Nicht der hervorragende Dämmwert. Beim letzten Weltstädteforum in Quito wurden soziale und Nachhaltigkeits-Themen vorbildlich besprochen – deren Dringlichkeit uns alle beschäftigt und hier keinesfalls relativiert werden soll – aber es wurde kein Wort über kulturelle Qualitäten verloren. Das Aussparen des Themas hat sichtbare Folgen. Nicht less aesthetics – more ethics (wie der Biennale-Titel vor einigen Jahren lautete), sondern aesthetics and ethics! Wir dürfen die Themen nicht gegeneinander ausspielen. Es kostet nicht mehr, nur mehr Empathie! Yvonne Farrell, die voriges Jahr hier gesprochen hat, und Shelley McNamara haben diese schwer greifbare Hauptsache zum Thema der von ihnen kuratierten Biennale unter dem Titel FREESPACE gemacht.

Architektur hat diese metaphysische feinstoffliche Ebene. Sie kann einen im wahrsten Sinn entführen. Die Atmosphäre alter Gebäude, voll mit Stimmungen und Gefühlen, geimpft mit Lebensinformation über lange Zeit, wird von niemandem infrage gestellt. Das ist auch ein interessanter Aspekt am Arbeiten mit dem Bestand. Und hier hat der Bestand einen eindeutigen Vorteil gegenüber Neugebautem, das sich erst mit der Zeit atmosphärisch anreichert. Aber das an den Wänden klebende Leid der Patient*innen der Steinhofgründe wäre für mich ein Grund, eine Kompletterneuerung in Betracht zu ziehen.

Wir haben es bei der Architektur mit einer Art Energieparadoxon zu tun: Die einmal investierte Energie fließt vielfach und permanent in die Benutzer*innen, oft über lange Zeit.

Architektur funktioniert auch in nicht materialisierter Form, als reine Idee. Architektur kann als Projekt stärker sein, mehr Einfluss haben, als manches Gebautes. Die Imagination kann stärker sein als die Realität. Sie wartet in der Schublade bis die Zeit reif ist. Unsere Schubladen sind voll. Die besten Projekte bleiben ungebaut.

Die Aufgabe des Berufs ist es, die Sphären möglichst ganzheitlich gedacht miteinander zu verknüpfen, das Abstrakte auf den Boden zu bringen. In diesem Spagat eines utopischen Pragmatismus liegt der Reiz der Tätigkeit.

Wir (PPAG) sehen uns ja als Transformationsmedium. Die Hauptrolle gehört der Architektur. Nicht wir wollen, das Haus will. Mit dem üblen Begriff der „Selbstverwirklichung” haben wir nichts zu tun. Wir probieren (wie die Ärzte im Mittelalter) möglichst viel an uns selber aus. Die Erfahrung am eigenen Leib, zB. mit dem Erdgeschosswohnen und -arbeiten an der Straße, macht uns sicher und fließt in die Arbeit ein. Wir schlüpfen method-acting-artig in andere Häute und bauen daraus Räume. Und herrlich, mit all dem werden wir nie auch nur ansatzweise fertig.

Architektur ist das gebaute Abbild einer jeweiligen Gesellschaft, bzw. der Machtverhältnisse dieser Gesellschaft. Sie spiegelt den Wert, den diese Gesellschaft ihren Mitgliedern gibt. Architektur ist als grundsätzlich ein- oder ausschließende Kategorie elementar politisch. Sie ist durch den langen Bestand und durch vergleichsweise hohe Kosten zentrales Schmiermittel des globalen Kapitalflusses. Ohne Geld keine Architektur. Die Kanalisierung und Bändigung des Kapitals, die Vereinigung der Kräfte für das Allgemeinwohl ist vor allem Aufgabe einer selbst-bewussten (!) Politik. Von uns Architekt*innen erfordert dieses Spiel Haltung und ein kritisches Verhältnis zur Macht. Das kann auch heißen Nein zu sagen zu einem Auftrag. Die Nutzer*innen sind mindestens so sehr unsere Auftraggeber*innen wie die Auftraggeber*innen selbst. Architektur ist nicht Dienstleistung, sondern Liebesdienst.

Indem die Geschichte fortschreitet, ist Architektur zwangsläufig immer neu | im Wandel begriffen. Wir nennen das das Notwendige-Neue, nicht das Neue um des Neuen willen. Sie erneuert sich ständig aus der Überwindung und Verarbeitung des Vorherigen heraus. Architektur entsteht aus einer Vorstellung des sich darin zukünftig abspielenden Lebens. In dem Sinn ist jeder Entwurf prototypisch, eine Versuchsanordnung neuen Lebens. Architekt*innen sind Henne und Ei zugleich. Wir planen, also antizipieren wir zwangsläufig Zukunft. Wir sind in der Lage zu prognostizieren, aufgrund intensiver Beschäftigung mit dem jeweiligen Zusammenhang: Wir planen die Wohnungen für eine Bevölkerung mit bedingungslosen Grundeinkommen schon lange bevor es diese gibt. Der alternative Mobilitätsgedanke stößt einen anderen, durchlässigen Städtebau an. Die Freiklassen im Bildungsbau bedürfen spätestens seit Pandemiezeiten keiner Rechtfertigung mehr…

Wir leben heute bekanntlich in einer diversifizierten, pluralistischen Gesellschaft. Mit der gesellschaftlichen Utopie eines Gleichgewichts der Minderheiten. Wir brauchen gebaute Strukturen welche die damit verbundene Komplexität fassen können.

Ein Beispiel: Die Erkenntnis der Einzigartigkeit jedes Kindes hat zu einem Paradigmenwechsel im Bildungsbau geführt. Ein erweiterter Bildungsbegriff, der vielfältige Formen des Lernens unterstützt und die Entwicklung hin zur Ganztages- und Ganzjahresschule haben enorme Auswirkungen auf die Morphologie des Gebäudes selbst. Die Bildungsziele „selbständiges Handeln” und „Kooperation” brauchen einen Raum, der die Selbstermächtigung unterstützt, der vielfältig, aneigenbar und anregend ist. Diese Schulen sind heute Symbole für die Wertschätzung jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft. Die Ideen dazu wurden zum Teil vor 60 Jahren oder länger entwickelt.

Im Wohnungsbau bleiben derartige Revolutionen vorerst aus. Noch immer werden europaweit die durchreglementierten 1-, 2-, 3-, 4-Zimmerwohnungen für die klassische Kleinfamilie realisiert, die längst von vielen anderen Formen des Zusammenlebens überholt ist. Wohnungen müssen für Personen jeden Alters und Hintergrunds, für Alleinerzieher*innen , Patchworkfamilien, Wahlverwandschaften, Wohngemeinschaften, zum Wohnen und | oder Arbeiten, als Home-Office und Schule geeignet sein, passgenau und anpassbar an sich über die Zeit verändernde Bedürfnisse. Das ist nichts Neues, die Pandemie hat es nur deutlich gemacht. Denken wir mehr an räumliche Grundqualitäten, die der Wohnung als Lebensmittel, als Nullpunkt im individuellen kartesischen System, entsprechen.

Angenommen der urbane Raum ist weiterhin ein Hauptschauplatz der Herausforderungen, müssen wir die Morphologie der Stadt weiterentwickeln. Hier geht es zuerst einmal immer um eine möglichst brauchbare Verteilung von Gebautem zu Freiraum, die allein angesichts einer sich ändernden Mobilität neu gedacht werden kann. Dichte entsteht aus der Attraktivität und Anziehungskraft eines Ortes. Arbeiten wir an einem positiven Dichtebegriff, der Dichte als Mittel und Ausdruck sozialer Gerechtigkeit einsetzt. Arbeiten wir an neuen Modellen die hybride, vieldeutige, relationale, Widersprüche vereinende, fluide, ganztägig - ganzjährig genutzte, wandelbare, inklusive, performative Räume anbieten, die nicht auf Neutralität zielen, sondern Lebensfreude, Identifikation, und ja, auch Schönheit vermitteln. Weit über schon praktizierte zarte Ansätze von Mischnutzung in der Erdgeschoßzone hinaus. Auch im Bestand. Auf Augenhöhe mit der historischen Substanz. Wagen wir es, die Silhouetten der Stadt zu verändern! Arbeiten wir angesichts der Erderwärmung an einer konsequenten Überlagerung von Wald und Stadt. Arbeiten wir angesichts der Übersiedelung an konsequenter Unsichtbarkeit von Architektur. Arbeiten wir an verdichteten Äquivalenten fürs Einfamilienhaus. Dafür haben wir die besten (digitalen) Hilfsmittel für Planung und Ausführung! Dafür gibt es keine Ausreden.

Ein gutes Mittel die Architekturkultur weiterzutreiben, die gedanklichen Fortschritte gesellschaftlich zu implementieren, sind Wettbewerbe. Als ein Mittel, das noch unbekannte Beste für eine Situation zu finden. Jede*r Architekt*in versteht unter Architektur ein bisschen etwas anderes. Diese kleinen Unterschiede prägen als großteils anonyme Großleistung die Städte der Welt. Die Parallelvorschläge sind eine wichtige Informationsquelle für die Allgemeinheit, die gut daran täte, diesen Reichtum an Ideen mehr anzuzapfen. Bei Wettbewerben gibt es meist so viele unterschiedliche Ansätze wie Teilnehmer*innen. Es gibt oft kein eindeutig bestes Projekt und dennoch liegt die Qualität auch nicht rein „im Auge des Betrachters”. In letzter Zeit geht es zu oft in die Richtung des am wenigsten schlechten aber nicht des vielleicht etwas fehlerhaften, aber interessantesten, innovativsten Projekts. Das Ergebnis ist so gut wie der Horizont der Jury. Man entscheidet oft unmutig, orientiert sich zukunftsverdrossen an der Vergangenheit. Man hat sich in Semi-Zufriedenheit eingerichtet, Freude kommt keine auf.

Generell ist erstaunlich, mit wie wenig wir uns zufrieden geben. Woran wir als Produzent*innen und Konsument*innen gewöhnt sind. Von unzähligen materiellen und konstruktiven Möglichkeiten sind eine Handvoll am Markt. Wir sind gleichsam alle verdammt zu den immer gleichen Fenstern, Geländern und Details. Versuchen Sie einmal im Wohnbau eine Alternative zum Stabgeländer vorzuschlagen! Der Variantenreichtum ist wesentlich geringer als zum Beispiel noch in der Nachkriegszeit. Das Baugeschehen liegt in der Hand weniger Firmen die den (unleistbaren) Preis machen. Wir müssen die Firmenvielfalt äquivalent zur Vielfalt unserer Ideen wieder herstellen. Dann normalisieren sich auch die Preise.

Wir arbeiten seit über 30 Jahren mit digitalen Werkzeugen. Wir schöpfen die unbegrenzten Möglichkeiten dieser Tools in Planung und Ausführung nicht in der richtigen Weise aus. Die Praxis ist ernüchternd. BIM trägt eigenartigerweise strukturell zur Simplifizierung und Uniformierung der Architektur, statt zu ihrem inhaltlichem Reichtum bei.

Wieder ganz unnaiv gesprochen: Wir wissen viel. Wir sind auf einem guten Weg: Wir werden uns der fragilen Zusammenhänge unserer Umwelt zunehmend bewusst. Wir erobern uns die Städte als Lebensraum zurück. Die 15-minStadt… Bürger*innen werden zu Akteur*innen. Entwicklungen kommen bottom up. Obwohl, partizipative Prozesse mit hohem Anspruch müssen wir erst lernen. Ein ethisch dominierter Ökonomiebegriff setzt sich durch, wachstums- und eigentumsskeptisch, vor allem ausgehend von einer jungen Generation.

Wir wissen viel darüber, was für alle gut wäre. Wohin wir uns entwickeln möchten. Es fließt nur noch nicht in unsere Alltagsrealität ein. Wir setzen das denkbare Mögliche nicht um. Wir setzen nicht um, was wir uns bereits vorstellen können. Die gebaute Umwelt ist ein schwacher Abklatsch des Möglichen. Architektur und Architekt*innen können viel mehr als ihnen abverlangt wird. Wir müssen mehr wollen!

Im Anthropozän verändern wir die Erdachse unfreiwillig durch das Ungleichgewicht, das durch die Stauseen der Nordhalbkugel entsteht. Dieses „Können” können wir auch zum Guten wenden. Und es gibt viel zu tun. Planen ist eine hochentwickelte Art des strukturierenden, ordnenden und zugleich kreativ-erfinderischen Denkens für ein Ergebnis. Es ist weit über die Disziplin hinaus für die Herausforderungen der Zeit anwendbar. Der Generalismus der Architekt*innen (dem zurecht auch Halbwissen nachgesagt wird) ist hier hilfreich. Wenn das durch die Pandemie ausgelöste kollektive Unbehagen einen Sinn ergeben kann, dann vielleicht den, nicht reflexartig in alte Muster zurückzukippen, sondern unvoreingenommen und vielleicht sogar neugierig weiterzudenken und es zu versuchen wie noch nie…. Wann, wenn nicht jetzt!