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Hermann Czech
Zur Zeit meiner Ausbildung war Architektur eine Rechtfertigungskunst: Warum haben Sie das so gemacht, Herr Architekt; was haben Sie sich dabei gedacht? Damit war nicht so sehr die Begründung durch Zwecke gemeint (also: Wozu braucht man das, was hilft uns das?). Ich habe überhaupt unter Entwurf eine Reihe von aufeinander aufbauenden Entscheidungen verstanden, Entscheidungen, die in den vielfältigen Materien, mit denen Architektur zu tun hat, und aus diesen Materien, zu einem schlüssigen Entwurfs-Ergebnis führen mussten. — Ein Aspekt dieses Ergebnisses war die Form, die also nicht vorher bekannt sein konnte.

Diese Entscheidungsreihe war als nachvollziehbar vorgestellt — in dem Sinn: Meine Lösung ist so richtig, dass jede schlüssig denkende Person auf dieselbe Lösung kommen müsste.

Die einschneidende Erfahrung, die der Student oder die Studentin dazu macht, ist: Erstens, überraschenderweise macht es jemand anderer ganz anders. Zweitens: Das muss keineswegs Beliebigkeit bedeuten. Diese andere Lösung kann ebenso profund sein. Die Antworten auf das "Warum?" lauten dann eben anders.

Aber heute lautet die Antwort auf das "Warum?" zunehmend: "Warum nicht?"

Größeren Respekt genießt die architektonische Leistung deswegen freilich nicht. Im Gegenteil: Architektur wird als Dienstleistung angesehen, ein Wort, das selbst die Theorie des Funktionalismus erstaunlicherweise nie verwendet hat. Dienstleistung. In einem engeren rechtlich-wirtschaftlichen Sinn: ja; aber was da zunehmend als Dienstleistung nachgefragt wird, ist nicht eine Gesamtverantwortung, der aufgegeben wird, was man will, aber nicht wie, sondern es sind zunehmend spezifische Teilleistungen aufgrund von Voraussetzungen, deren Ursprung im Dunkeln bleibt.

Es fällt uns zum Beispiel kaum mehr auf, dass unser Architekturdenken fast ausschließlich vom Einzelobjekt handelt; der Abstraktionsschritt zum stadtplanerischen Zusammenhang, wie immer der neu zu fassen wäre, entfällt; eigentlich wird er dem Investor überlassen.

Und unsere Aufgaben, die Einzelobjekte, teilen sich in separate Metiers. Zum Beispiel gibt es entweder Denkmalpflege oder Architektur; die beiden schließen einander aus. Auch das fällt uns nicht mehr auf.

Das dritte Tätigkeitsfeld ist "Abwicklung", Termin- und Kostenkontrolle, tendenziell zum Nachteil der anderen Zielsetzungen.

Die Kriterien des alten Vitruv - Festigkeit, Zweckmäßigkeit, Schönheit - greifen nicht mehr; die ersten beiden, Festigkeit und Zweckmäßigkeit, sind zur Haftungsfreiheit verkommen, die Schönheit ist in den durch Star-Architektentum vermittelten News-Wert gestolpert. Solche Teilleistungen passen in den Modebegriff "Consulting", auf den manche Junge sehr stolz sind. Sie sehen nicht, dass sie damit schon im Ansatz zu bloßen Erfüllungsgehilfen (und -gehilfinnen) werden.

Nun wollen wir die Rolle der Architektur nicht überschätzen. Baukunst schafft nicht besseres Leben; sie beseitigt nicht Unterdrückung und Unfreiheit, sie ist im konkreten Fall für die Vitalität einer Person, einer Gruppe, einer Stadt, einer Bevölkerung irrelevant.

Aber was kann sie? Wie produziert sie Denkmale, die eines Tages gepflegt werden?

Der Stephansdom war ein "work in progress", bis ins 19. Jahrhundert. Seit seiner Zerstörung 1945 gab es nur mehr "Wiederaufbau" oder touristische Anbiederung, von respektablen Ausnahmen wie der Orgel auf der Westempore abgesehen, im Gegensatz zu der pseudobarocken Orgel im südlichen Chorschiff.

Clemens Holzmeister hat nach 1945 vorgeschlagen, das Dach des Doms nicht mehr herzustellen und den Baukörper flach abzuschließen; stattdessen wurde der Umriss des abgebrannten gotischen Holzdachstuhls mit einer Stahlkonstruktion simuliert.

Bauten wie der Dom oder die Hofburg — oder ihre Fortsetzung — sind heute unmöglich. Denken wir nur an die panische Wiederaufbau-Reaktion nach dem Brand der Redoutensäle. An sich belanglose Räume, an die man sich kaum erinnert, selbst wenn man öfters drin war – das Interessanteste daran sind die zahlreichen historischen Umbauprojekte, die nicht ausgeführt wurden. Der etwas bessere "Kleine" Redoutensaal war weniger zerstört; der "Große" ist so verzichtbar wie vorher. Aber hinter der wiederhergestellten Kulisse ist jetzt die Konferenz-Infrastruktur eingebaut. Aus deren Anforderungen und den erhaltenen Resten hätte ein Konzept für etwas Neues entstehen müssen.

Ein älteres Beispiel eines historischen Missverständnisses war das Mobil-Haus am Schwarzenbergplatz. Ferstels Konzept für den Platz hätte jedes Gebäude erlaubt, das man wollte; die Flexibilität war vorgegeben, es waren nur die Umrisse definiert. Und tatsächlich standen und stehen ja an diesen vier Ecken des Platzes vier verschiedene Gebäude, eines davon das frühere Palais eines Erzherzogs. Es war ausgesprochen unsinnig, das eine Gebäude an der vierten Ecke, das im Krieg zufällig zerstört worden ist, nachzubauen; dort hätte man mit dem vorgegebenen Umriss genau das hinbauen können, was man brauchte.

Wie sieht das andere Metier aus: Architektur? Wenn Architektur gefragt ist, dann geht es weithin um ein mediales Bild, das möglichst viele glauben macht, so etwas hätten sie noch nie gesehen.

Dieser News-Wert — nicht nur der Stararchitektur — als Qualitätskriterium ist nur ein Teilaspekt der totalen Marketing-Strategie, die die Architektur-Rezeption beherrscht.

Neben das Branding von Star-Namen, die zum geringen Teil auch durch Qualität gedeckt sind, tritt das Theming — die Etablierung von Themen. Größere und kleinere, kommerzielle und soziale Vorhaben kennzeichnen sich durch Assoziationswerte, die über tatsächliche Planungsparameter weit hinausgehen. Imagineering, das engineering von images, ist von Disney geprägt worden. Was wir hier beobachten, ist der Eintritt der Architektur in die Kulturindustrie. Schließlich überraschen auch die neueren theoretischen Begründungen von Ornament nicht, auch nicht, dass neuerdings Atmosphäre produziert werden soll — sozusagen in einer vermeintlichen Umkehrung des Entwurfsprozesses.

Das Bild, nicht der Gedanke, trägt die mediale Vermittlung der Architektur. Bilder schwirren umher, auf denen man alles sieht; nur nicht, was gemacht wird.

Ein gemeinsames Kennzeichen vieler dieser Erscheinungen dürfte in der Versuchung liegen, Architektur nicht von der Produktion, also vom Entwurf, sondern von der Konsumtion her zu denken — und es erhebt sich die Frage, ob das, ohne den Konsumenten und sich selbst zu belügen, möglich ist.

Den Begriff der Kulturindustrie haben Adorno und Horkheimer vor Jahrzehnten gefasst und analysiert. Deren Produkte sprechen nicht mehr zum Rezipienten, indem sie sich an seine Freiheit wenden, wollen ihn weder bewegen noch überzeugen, sondern sie betrügen ihn, nehmen ihn als bloßes Mittel, um an sein Geld zu kommen, das er möglicherweise auf gleiche Art erlangt hat — oder auch an seine politische Zustimmung. Es ist kein einfacher Betrug; Adorno sagt: "Nicht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein ... sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen ... Uneingestanden ahnen sie, ihr Leben werde ihnen vollends unerträglich, sobald sie sich nicht länger an Befriedigungen klammern, die gar keine sind."
(Theodor Wiesengrund Adorno: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1997, Bd. 10.1, S. 342)

Mit dem Setzen des Konsumenten als bloßes Mittel wird genuine, authentische Kommunikation zwischen Entwurf und Rezipient abgeschafft. Den Konsumenten als Mittel betrachten heißt ihn auf niedrigeres Niveau stellen — beim Produzenten entsteht dann ein Halbbewusstsein, das sich von der eigenen Produktion distanziert, weil die ja nur "für den Verkauf" gemeint ist. Dieses Halbbewusstsein fühlt sich der eigenen Produktion überlegen und daher dafür nicht wirklich verantwortlich. Ja mehr noch: Da jedermann irgendetwas inklusive sich selbst "vermarktet", beurteilt er eine Sache nicht unmittelbar, sondern "fachmännisch": ob der Bauernfang "gut gemacht" ist.

Wer eine Entwicklung aufhalten will, befindet sich immer auf der falschen Seite. Eine realistische Einstellung muss diese eskalierenden Veränderungen hinnehmen, ja sie beschleunigen. Die Veränderungen müssten noch stärker sein, noch charakteristischer; dann wollen wir warten, bis sie Bestand geworden sind.

Können wir nicht dann, statt einen aussichtslosen Kulturkampf zu versuchen, diese Erscheinungen als kritisches Potenzial betrachten?

Einiges hat sich an den überkommenen Kriterien ja sachlich geändert: Zum Beispiel das heroische Ideal der Entsprechung von Innen und Außen: Ist das nicht fraglich geworden, da technologisch tendenziell kein Bauteil mehr von innen nach außen durchgeht, vielmehr die außen und innen erscheinende Substanz aus unabhängigen Schichten besteht, die verschiedene Funktionen haben?

Und ist nicht das Definitionsfeld künstlerischer Qualität offener geworden, da in einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung alles zum Zeitzeugnis werden kann?

Und wenn der Denkmalbegriff sich mehr und mehr differenziert, indem ihm nicht nur irgendein ursprünglicher Bau zugrunde gelegt wird (der ja sehr oft fiktiv ist), sondern seine späteren Umbauten und Hinzufügungen mitgeschützt werden — wird dann nicht in einer zu Ende gedachten Denkmalpflege jeder Eingriff — auch meiner, im Augenblick da ich zurücktrete — erhaltenswert? Löst sich der Begriff des Denkmals, an dem nichts verändert werden darf — zumindest nicht so, dass man es merkt — auf diese Art selbst auf?

Dem unkritischen Denkmalpflegebegriff liegt ja auch eine Marketing-Haltung zugrunde, nämlich das politische Missverständnis: Man glaubt, wenn man ein Denkmal restauriert, dann hat man die Verantwortung zurückgegeben ans 17. oder 18. Jahrhundert oder welches immer. Aber es ist ein Irrtum: Wenn man das Denkmal angreift, dann ist es ein Werk des 21. Jahrhunderts, aber häufig eben ein verlogenes.

Wir kennen sogar, wie es Umberto Eco für Disneyland beschrieben hat, das Umschlagen des Fake in das nunmehr eigentlich "Echte".

Das Hässliche, Triviale, der Kitsch sind theoretische Gegenstände — nicht erst der Postmoderne, schon der Moderne selbst, seit der Romantik, die produktiv gemacht wurden.

Kann Architektur nunmehr das, was Adorno den "Verblendungszusammenhang" nennt, durchbrechen? Das ist meine Frage: Lässt sich mit dem theoretischen Rüstzeug der differenzierten Moderne auch aus den Strategien des Branding, Theming, Imagineering ein kritisches Entwurfspotential gewinnen? Ist es selbst in solchem Zusammenhang möglich, den Rezipienten nicht als bloßes Mittel, sondern als Adressaten einer Wahrhaftigkeit zu setzen? Künstlerische Wahrhaftigkeit schließt ja Elemente der Täuschung oder der Ironie nicht aus; es kann auch eine zynische Wahrhaftigkeit sein.

Ist die Instandsetzung der Architektur aus dem Geiste des Trash möglich?

Das wäre ein Ansatz von Authentizität gegenüber der Geschichte — und gegenüber den Geschichten anderer Kulturen — (auch wenn wir kein Vertrauen mehr in eine zukünftige Kunstgeschichte setzen): aus dem Material der Verdummung eine Architektur zu gewinnen, die repräsentiert, aber nicht betrügt, die bewegt, aber nicht süchtig macht.

Es ist ein Minderheitenprogramm: sich nicht blöd machen zu lassen und es auch bei anderen nicht zu versuchen.


   
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